Krankenhaus-Staffellauf
Ich darf nicht verlieren. Zwanzig Meter-sonst ist meine gesamte Karriere als Leistungssportler beendet. Zehn Meter- ich denke an meine Familie, meine Eltern. „Es ist in Ordnung, wenn du Zweiter wirst“, hatte meine Mutter gesagt. Doch ich weiß, dass das eine Lüge war. Ich überhole den Ersten kurz vor dem Ziel und gewinne mit einer Nasenlänge Vorsprung. Geschafft- Olympische Spiele, ich komme!
Zumindest dachte ich so…
Doch dann:
Das Auto-die Fahrt nach Hause- die Kreuzung-der Bus- das Nichts…

Einatmen- ausatmen-einatmen-ausatmen- Augen öffnen- Wieder anfangen Röntgenbilder auszuwerten, Aufzeichnungen vor dem nächsten Termin anzusehen. Seine Sekretärin stört ihn: „Da ist ein dringender Fall auf der OP-Station…“ Er war schon wieder am Überstunden machen. Aber so funktioniert es in der Welt- jeder muss seinen Beitrag leisten. „Ist das nicht sogar Teil meines Berufes als Arzt“, denkt er grimmig, „Leuten dazu zu verhelfen, ihren Beitrag leisten zu können? So funktioniert’s doch in der Welt! Und Aussteigen ist nicht. Dann funktioniert’s nicht.“ Sie reicht ihm einen Ordner. „Beide Beine müssen ab.“

Ich wache im Krankenhaus auf. Was ist passiert? Mir tut alles weh. Alles… Außer meine Beine. Meine Beine! Ein Glück sie tun nicht weh, ihnen geht es gut. Doch mir fällt auf: Sie schmerzen zwar nicht, doch ich kann sie überhaupt nicht spüren! Ich bekomme Panik. Voller Schreck wende ich mich an eine Krankenschwester: „Was…“, setzte ich an. Meine Stimme ist nur ein Keuchen. Sie hört mich trotzdem: „Er ist wach“, ruft sie zu jemandem.
„Können sie mich hören? Verstehen sie, was ich sage?“ Ihre Frage führt dazu, dass sich in meinem Kopf alles dreht. Sie sagt: „Sie hatten einen Autounfall. Ihre Beine sind von einem Bus zertrümmert worden. Sie werden zwar beide verlieren, aber …“
Ich hörte nicht mehr hin. Meine Beine, das Wichtigste in meinem Leben. Und ich würde sie beide verlieren. Alles was ich mir aufgebaut habe – weg. Meine gesamte Karriere – dahin. Ich würde mein restliches Leben im Rollstuhl und als Pflegefall verbringen. Meine Eltern …

Er macht sich auf den Weg. Dabei denkt er sich: „Ein Raucher also.“ In ihm steigt Ekel hoch. Er hatte mal von einem Fall gehört, in dem einer schwangeren Kettenraucherin, die auch für das Kind nicht aufhören wollte, regelrecht zur Abtreibung geraten wurde. Das Kind hätte wahrscheinlich nicht einmal seinen ersten Tag überlebt. Depressionen hatten die Runde gemacht… Soll ich etwa auch anfangen, meine Patienten zu vergiften? So geht’s nicht in der Welt. Jeder muss seinen Beitrag leisten! Und Aussteigen ist nicht.

Meine Eltern! Ich bin ihr einziges Kind! Sie haben alles für mich getan, ohne je etwas zurückbekommen zu haben. Ich könnte mit der Enttäuschung fertig werden, aber sie… Meine Mutter, sie würde es nicht ertragen, mich den Rest ihres Lebens pflegen zu müssen. Mein Vater, er saß selber am Steuer. Beide könnten es nicht ertragen, mich leiden zu sehen. Nein, ich darf nicht zulassen, dass sie sich wegen mir ihr restliches Leben verderben.

Er steht jetzt vor der Tür. Einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen. Runterkommen.
Ich bin jetzt im OP-Saal und fasse einen Entschluss. Ich darf diesen Saal nicht lebend verlassen. Ich werde in diesem Raum sterben. Die Tür öffnet sich, die Tür schließt sich. Der Arzt kommt rein.

Geschrieben von Heidi und Karoline




bloedekuh am 09.Nov 15  |  Permalink
Wow, eine richtig geile Story!!!